Dem Ganzen eine Chance geben oder einfach abhaken?

Meine Frage ist, wie ich mich verhalten soll. Soll ich nochmal mit ihm sprechen? Dem Ganzen eine Chance geben oder einfach abhaken? Oder die Sache laufen lassen? Ich tendiere dazu, dem zuzusehen und zu warten, was kommt. Fühle mich nicht schlecht dabei. Aber ich bin älter und verliere ggf. Lebenszeit. Ich bräuchte einen verlässlichen Partner.

Ich bin bereits 51 Jahre alt und habe etwas Ähnliches noch nicht erlebt. Wobei ich nach einer langen Beziehung schon lange Single bin und in dieser Zeit auch schon Enttäuschungen erlebt habe. In diesem Fall hat meine Menschenkenntnis versagt. Bin ich einem Casanova erlegen?

Seit Januar letzten Jahres treffe ich mich mit einem 3 Jahre älteren Mann. Die Sache lief von Anfang an ziemlich problemlos – also kein Hin und Her, kein Zögern. Ich hatte erst ein wenig Bedenken, weil bei mir nicht direkt der Funken übergesprungen war. Mit der Zeit sah ich aber, dass wir wirklich perfekt harmonierten. Dieselben Interessen, Geschmack, Hobbys, Einstellung zum Leben…. Dazu haben wir zusammen wirklich viel Spaß. Es ist immer schön und wir können uns so gut unterhalten.  Über alles und jeden… vom Unsinn bis zur Politik und Weltgeschehen. Auch über persönliche Dinge natürlich.

Ein Haken existierte – wir sahen uns selten. D. h. nur einmal im Monat. Das war zwar gut begründbar, da er auf einem Kreuzfahrtschiff tätig ist und einen kleinen Sohn hat, der 300 km entfernt wohnt, hat. Ich bin eine vielbeschäftigte Anwältin.  Mich störten die seltenen Treffen weniger, als dass ich es auffällig fand. Wir hatten aber sonst täglich Kontakt – entweder übers Telefon oder via Signal. Ich bin selbst keine Klette und empfand etwas Abstand als ganz angenehm.

Wir haben in dem Sinne kein Beziehungsgespräch geführt. Uns aber z. B. gegenseitig versichert, dass wir uns nie verlassen werden, dass wir niemanden anderen treffen. Dazu wollte er unbedingt meine Familie kennenlernen, was wir dann vor Kurzem gemacht haben.

Also es lief insgesamt alles prima. Das einzige Warnzeichen für mich war, dass wir uns so wenig sahen. Von meiner Seite aus wäre das häufiger möglich gewesen. Er schob häufiger seine Arbeit vor, was ich schade fand. Ihn auf eine Kreuzfahrt zu begleiten, ging angeblich nicht, weil er nicht abgelenkt werden wollte und dort ständig beschäftigt sei. Das habe ich irgendwie nicht geglaubt. Denke, er wollte mich nicht dort haben. Allerdings ist er auch furchtbar verpeilt, was ich als meine persönliche Erklärung abspeicherte.

Dann begab sich Folgendes: Er hatte eine Fahrt nach Barcelona mit 3-tägigem Aufenthalt dort und anschließendem Seminar in München. Man würde sich also sicher eine Woche bis 10 Tage nicht sehen. Er schickte mir davor eine Gute-Nacht-Nachricht vor dem sehr frühen Start am nächsten Morgen. Darauf antwortete ich – ohne großes Nachdenken, aber auch der Wortwahl bewusst: „Pass auch Dich auf. Liebe Dich“.

Darauf erhielt ich die Nachricht: „Nett, dass Du das schreibst, aber wir kennen uns doch kaum“. Und einen Anruf von einem sehr aufgewühlten Mann: Warum ich ihm so etwas schreiben würde… das habe er nicht gewollt. Er fühle nicht so. Er habe nur gedacht, dass wir gute Freunde sind. Ich sagte dann, dass er sich wohl deswegen auch so wenig Zeit genommen habe. „Nein, deswegen nicht.“ Er habe so wenig Zeit. Ich sagte, dass ich mir das Ganze überlegen müsste.

Mich hat das alles irgendwie überraschend wenig mitgenommen. Ich bin natürlich enttäuscht. Und es ist mir so, als sei eine schöne Gewohnheit vorbei und eine sehr angenehme Gewissheit weg. Finde es sehr schade.

Er verhält sich jetzt auch weiterhin wie immer. Ist etwas charmanter. Gestern haben wir kurz telefoniert.  Er will sich morgen mit mir treffen.

Eine Liebesbeziehung ist auch eine Spiegel

Wir haben uns über Deine Frage gefreut, ob Du diese unterschiedliche Einschätzung Deiner Freundschaft mit ihm noch mal besprechen solltest, um vielleicht dem Ganzen eine Chance zu geben oder einfach abzuhaken.

Erstmal im Allgemeinen: Eine Freundschaft oder eine Liebesbeziehung ist neben etwas, was wir genießen können, gleichzeitig auch eine Spiegel, woran wir wachsen dürfen. Wenn Du der Wortwahl wählst „Pass auf Dich auf. Liebe Dich.“, oder er: „Ich wollte nicht, dass Du so etwas schreibst. Ich bin nicht verliebt. Ich habe einfach gedacht, dass wir uns gegenseitig gut tun.“ dann stecken hinter diesen Wörtern viele Gefühle:

  • Manche Gefühle sind wahrscheinlich Standard, andere verletzlich, weich und vielleicht nur zum Teil bewusst.
  • Manche Gefühle haben mit dem Hier-und-Jetzt zu tun, andere vielleicht mehr mit der Vergangenheit.
  • Manche Gefühle spüren und teilen wir jeden Tag. Für andere Gefühle haben wir vielleicht noch nie Wörter gefunden und sie noch nie mit anderen geteilt.

Beziehungen, in denen hauptsächlich Standard-Emotionen aus der Vergangenheit ausgetauscht werden –  ein bisschen wie im Arbeitsmodus -, sind eher distanziert und geben wenig Boden zum Wachsen. Dahingegen bringt ein ehrliches, bewusstes gemeinsames Erleben von verletzlichen, weichen Gefühlen aus dem Hier-und-Jetzt Nähe, Verbundenheit und bietet Raum zum Wachsen.

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Dieses Weiche, auf dem Du gerade stehst, ist ein wichtiger Ort. Besteht die Möglichkeit, auf ihn zuzugehen und zu fragen, ob er auch diesen Vorfall nutzen möchte, um aufrichtig neugierig zu sein, mehr über Euch zu lernen und beide daran zu wachsen? Was meinst Du, würde er auf so eine offene, verletzliche Frage eingestimmt reagieren? Oder hast Du das Gefühl, dass Dich so mitzuteilen ein zu großes Risiko wäre und Euer Miteinander gefährden würde?

Es gibt ein wirklich hervorragendes Buch darüber, warum genau diese Momente, in denen wir nicht auf einander eingestimmt sind, diese kleinen Brüche, in der Reparatur zu Wachstum führen. Leider ist es (noch) nicht auf Deutsch übersetzt: https://thepowerofdiscord.com/

Wir wünschen Euch viel Nähe, Verbundenheit und Raum zum Wachsen, als Freunde oder vielleicht auch in einer Liebesbeziehung.

Liebe Grüße
Lovie

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